Stimmungsbild nach zwei Jahren Bürgergeld

Kaum Hoffnung auf eine Arbeit

Das Bürgergeld ist gerade einmal zwei Jahre alt. Bezieher:innen sprechen eigentlich noch immer von Hartz IV, denn aus ihrer Sicht ist der Unterschied im Portemonnaie kaum spürbar und die Ängste und Sorgen der Empfänger:innen dieser Leistungen sind offensichtlich auch nicht geringer geworden. Der Verein „Sanktionsfrei“ hat im April diesen Jahres eine Studie unter Bürgergeld-Bezieher:innen durchführen lassen. Das erschreckende Ergebnis der aktuellen Umfrage: Hartzer:innen leiden unter täglichem Verzicht, unter psychischer Belastung und unter geringen Erwerbsaussichten.

Vor gut einer Woche, am 23. Juni 2025, stellte der Auftraggeber Sanktionsfrei in Berlin die Studie „Wie geht es den Menschen im Bürgergeldbezug? – Ein Stimmungsbild nach zwei Jahren Bürgergeld“ vor. In der Pressemitteilung heißt es: Knapp zwei Jahre nach der umstrittenen Bürgergeldreform plant die Koalition eine „Neue Grundsicherung“ mit beachtlichen Verschärfungen. Dabei hat es bisher noch keine umfassende wissenschaftliche Evaluierung des Bürgergeldes gegeben und Bürgergeldbeziehende selbst sind in der Debatte kaum gehört worden. Der Verein Sanktionsfrei hat deshalb über das Umfrageinstitut Verian eine Umfrage unter 1.014 Bürgergeldbeziehenden durchgeführt. Die Ergebnisse lassen Betroffene selbst zu Wort kommen und zeichnen ein drastisches Bild von täglichem Verzicht, psychischer Belastung und geringen Erwerbsaussichten. „Über die Hälfte der Eltern müssen regelmäßig auf Essen verzichten, damit ihre Kinder satt werden. Da läuft etwas grundlegend falsch. Statt das zu ändern, plant die Politik neue Verschärfungen beim Bürgergeld und diskutiert immer noch darüber, ob der Regelsatz zu hoch ist“, so Helena Steinhaus, Vorstand von Sanktionsfrei.

Der Regelsatz reicht nicht für das Nötigste

Der Regelsatz von monatlich 563 Euro für allein lebende Empfänger:innen von Transferleistungen reicht laut großer Mehrheit der Befragten (72 %) nicht aus, um ein würdevolles Leben zu führen. Selbst Grundbedürfnisse werden nicht ausreichend erfüllt: Nur jeder Zweite gibt an, dass in ihrem Haushalt alle satt werden; insbesondere Eltern verzichten zu Gunsten ihrer Kinder auf Essen (54 %). 28% machen sich sogar Sorgen, obdachlos zu werden.

„Trotz Einkauf nach Angeboten reicht das Bürgergeld nicht aus. Ich muss überlegen: kaufe ich den Kindern die dringenden Schuhe/Kleidung oder was zu essen“ (Aussage eines Bürgergeldbeziehenden in der Umfrage über das Auskommen mit dem Regelsatz)

Kaum Hoffnung auf eine Stelle

Der Wunsch, vom Bürgergeld unabhängig zu werden, ist stark ausgeprägt (74 %). Jedoch sind
nur Wenige zuversichtlich, dass sie auch eine Stelle finden werden, mit der sie den
Bürgergeldbezug beenden können (26 %). Neben Hindernissen auf der individuellen und
strukturellen Ebene werden die Jobcenter bei der Arbeitssuche nur als bedingt hilfreich
wahrgenommen.

„Das ist physisch für die ganze Bedarfsgemeinschaft sehr belastend und sorgt für tägliche Reibungspunkte, obwohl ich mich seit Jahren aktiv und aufwendig um Arbeit bemühe. Unser Bürgergeld wurde jetzt um 170 Euro reduziert, weil unsere Wohn- und Heizkosten angeblich zu hoch sind, obwohl es in Leipzig keinen amtsgerechten Wohnraum gibt. Die interessiert die Psyche ihrer sogenannten Klienten überhaupt nicht, es wird nur gefordert nicht gefördert!!!“ (Aussage eines Bürgergeldbeziehenden in der Umfrage über Erfahrungen mit dem Jobcenter)

Angst vor politischen Verschärfungen

Gesellschaftliches Stigma und Scham sind unter den Befragten sehr präsent. Nur 12 % fühlen
sich der Gesellschaft zugehörig und 42 % geben an, dass sie sich schämen, Bürgergeld zu
beziehen. Die Mehrheit der Befragten (72 %) hat Angst vor weiteren Verschärfungen im
Bürgergeld: Insbesondere die mögliche Wiedereinführung eines vollständigen
Leistungsentzugs wird von den Befragten als akut existenzgefährdend beschrieben.

„Ich hätte kein Geld für Essen […] und am Ende würde ich obdachlos werden, da die Miete nicht bezahlt werden könnte. Von meinem Lohn könnte ich entweder Essen kaufen oder Miete bezahlen. Beides würde nicht gehen. Ein Teufelskreislauf“ (Aussage eines Bürgergeldbeziehenden in der Umfrage zu den Folgen von möglichen Totalsanktionen)

Leben in ständiger Unsicherheit

Thomas Wasilewski, der mit seiner Familie Bürgergeld bezieht, übte in der Bundespressekonferenz zur Vorstellung der Studie massive Kritik am jetzigen Bürgergeld-System: „Unser Leben findet in ständiger Unsicherheit statt. Es reicht kaum für die nötigsten Nahrungsmittel und auch der Schulalltag ist dadurch für unsere Kinder besonders schwer. Diese Stimme im Kopf ist immer präsent: Wie soll es morgen weitergehen? Das zerfrisst die Seele. Es ist unerträglich zu erleben, wie meine Söhne leiden, weil ihnen das Allernötigste fehlt.”

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), betonte in Berlin: „Das Bürgergeld muss so ausgestaltet sein, dass es die Teilhabe aller betroffenen Menschen gewährleistet. Eine Kürzung der Leistungen ist kontraproduktiv, nicht nur für die betroffenen Menschen, sondern auch für Unternehmen, Gesellschaft und Sozialstaat, da dies die Arbeitsaufnahme erschweren und nicht verbessern würde. Politik und Wirtschaft müssen mehr und nicht weniger in Menschen mit Bürgergeld investieren.“

Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin, auf der Bundespressekonferenz. (Foto: DIW Berlin / Florian Schuh)

Forderungen von Sanktionsfrei

Sanktionsfrei fordert deshalb, die Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen und die geplanten Verschärfungen zu stoppen. Außerdem einen bedarfsdeckenden Regelsatz von 813 €, wie nach ihren Berechnungen der Paritätische Gesamtverband fordert, die Abschaffung von Leistungsminderungen (Sanktionen) und Qualifizierung und Weiterbildung statt Vermittlungsvorrang. Statt den Fokus stets auf angeblich mangelnde Arbeitsbereitschaft zu richten, muss die Frage gestellt werden, inwiefern es für Personen im Bürgergeld überhaupt ausreichend bedarfsdeckende Stellen gibt.

Von 5,8 Millionen Hartz-4-Beziehenden sind ganze 76 % nicht arbeitslos. (sanktionsfrei.de)

Wo die Daten der Studie herkommen
Für die Umfrage wurden 1.014 Bürgergeldbeziehende zwischen 18 und 67 Jahren über ein Online-Access-Panel befragt. Durch eine abschließende soziodemografische Gewichtung auf Basis der amtlichen Statistiken sind die Daten geeignet, um Aussagen über die Grundgesamtheit der Bürgergeldbeziehenden in Deutschland zu treffen.
Link zur Studie.

In Münster g

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