Kästner in Klang und Wort
Von Christoph Theligmann
Es war einer jener seltenen Abende, an denen sich das Wort „stimmig“ nicht wie ein abgegriffenes Etikett anfühlt, sondern wie ein gerechtfertigtes Prädikat: „Hannemann liest Kästner – Lyrik und Jazz“ im Kulturbahnhof Hiltrup entpuppte sich am Montagabend als beglückende Verbindung von Sprache, Musik und Haltung. Das Publikum, das den Saal zu etwa vier Fünftel füllte, wurde Zeuge eines eindrucksvoll orchestrierten Dialogs zwischen Literatur und Klang, Ernst und Heiterkeit, Zeitkritik und zeitloser Kunst.

Der politische Kästner – entstaubt und klangvoll
Es ist ein mutiger Schritt, sich ganz einem Autor zu verschreiben – noch dazu einem, der von vielen vor allem als Verfasser liebenswerter Kinderbücher in Erinnerung geblieben ist. Doch Martin Hannemann, erfahrener Musiker und wortgewandter Erzähler, wagte den Blick auf den „anderen Kästner“: auf den politisch wachen, den sarkastischen, den illusionslosen Chronisten der Zwischenkriegszeit. Hannemann las nicht einfach – er interpretierte, dehnte und akzentuierte, ließ Pausen wirken, blickte ins Publikum, baute Brücken zu unserer Gegenwart.
Texte wie „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen?“ oder „Sachliche Romanze“ erhielten durch seine präzise und dennoch warmherzige Vortragsweise eine neue Dringlichkeit. Besonders die ironischen Spitzen, mit denen Kästner seine Zeitgenossen sezierte, wurden nicht nur hörbar, sondern spürbar – manch ein Lacher im Publikum endete im nachdenklichen Verstummen. Hannemann gelang es, den Autor nicht zu musealisieren, sondern als scharfsinnigen Zeitbeobachter lebendig zu machen, dessen Worte bis heute nachhallen.

Jazz als Resonanzraum
Was diese Lesung jedoch zu einem besonderen Ereignis machte, war die musikalische Konzeption. Das Jazztrio um Schlagzeuger Lothar Wantia – mit Niclas Floer am Klavier und Joffrey Bondzio am Kontrabass – bildete weit mehr als bloße akustische Kulisse. Vielmehr traten die Musiker in einen subtilen Dialog mit den Texten ein, suchten nach Klangfarben, die Atmosphären spiegelten, Kommentare abgaben oder emotionale Räume erweiterten. Dabei wechselten sich Textvorträge und Musikstücke ab – mit nur einer Ausnahme wurden die Lesungen nicht direkt musikalisch begleitet, sondern standen eigenständig neben den musikalischen Improvisationen.
Floer, dessen pianistische Handschrift zwischen lyrischer Melodik und expressiver Improvisation changiert, fand für jede Textpassage den passenden Tonfall: ein perlendes Laufwerk zu einem süffisanten Kästner-Vers, eine dissonante Fläche als Widerhall zu kritischen Zeilen, ein swingender Groove bei humorvollen Passagen. Bondzio lieferte dazu mit seinem Kontrabass nicht nur das harmonische Fundament, sondern beeindruckte mit melodischen Soli, die dem Abend zusätzliche Tiefe verliehen. Und Wantia, Initiator des Projekts, agierte unaufdringlich, aber mit wachem Gespür für die Dramaturgie des Abends – mal federleicht mit dem Besen, mal pointiert auf den Punkt, immer im Dienst der Gesamtwirkung. Das kann nur der Jazz: Aus einer Textvorlage, akustische Interpretationen mithilfe von musikalischer Improvisation zu formen. Der Ur-Stoff, der das an diesem Abend ermöglichte – das waren die sogenannten Standards der Jazzgeschichte wie „Alone Together“, aber auch die ein oder andere Eigenkomposition.

Kein Zufall, sondern Konzept
Dass dieser Abend so geschliffen und dabei so lebendig wirkte, war kein Zufallsprodukt, sondern das Resultat sorgfältiger künstlerischer Planung. Schon der Veranstaltungshinweis hatte dieses Konzept erkennen lassen, das nun in der Ausführung voll aufging: Kästners Texte sollten nicht illustriert, sondern wie oben erwähnt durch musikalische Improvisation auch in neue Kontexte gestellt werden. Das ist gelungen – und mehr noch: Die Musik schuf nicht nur Atmosphäre, sondern öffnete Interpretationsräume, ließ Kästners Worte in einem anderen, auch zeitgemäßen Licht erscheinen, manchmal auch mit anderer Schärfe.
Nach der Pause – die insgesamt eine knappe halbe Stunde dauerte – wurden die ausgewählten Texte spürbar politischer. Neben der Lyrik kam nun auch Prosa zu Wort: Kästners kurzes Stück „Wahres Geschichtchen“ setzte einen besonderen Akzent, der seine Gesellschaftskritik in pointierter Form bündelte.
So wurde der Kulturbahnhof Hiltrup für gut 110 Minuten – inklusive der Pause mit dem verbalen Austausch von Künstler und Publikum – zum Resonanzraum für kritische Zeitdiagnosen, satirische Beobachtungen und stille Melancholie. Die Veranstalter hatten nicht nur eine technisch perfekte Tonabmischung organisiert, sondern auch ein aufmerksames, engagiertes Umfeld geschaffen – von der einladenden Atmosphäre im Raum bis zur durchdachten Lichtgestaltung. Alles wirkte vom Veranstalter Kulturbahnhof Hiltrup mit Liebe und Kompetenz vorbereitet.


Ein Abend, der nachklingt
Was bleibt von diesem Abend? Zunächst ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für das kulturelle Engagement der Beteiligten. Dann die Erkenntnis, dass Erich Kästner mehr denn je unsere Zeit kommentiert – durch Worte, die auf erschreckende Weise aktuell sind. Und schließlich der Eindruck, dass künstlerische Disziplin und Spontaneität, Sprache und Musik, Humor und Haltung keine Gegensätze sein müssen.
Als das Publikum nach dem letzten Textvortrag, der letzten musikalischen Nummer, lange applaudierte – nicht frenetisch, sondern ehrfürchtig – wusste man: Hier war nicht einfach ein Programm abgeliefert worden. Hier war Kunst passiert.
Ein „voller Erfolg“, wie man so schön sagt? Ja, aber einer, der weit über das Gelingen eines Abends hinausweist. Denn was hier gelungen ist, ist ein Stück lebendige Kulturarbeit: klug, unterhaltsam, politisch – und schön.
