Kommunalist*innen-Treffen beim antiautoritären Kongress

von Netzwerk für Kommunalismus (Juli 24, 2023)

150 Jahre nach Gründung der Antiautoritären Internationale trafen sich über 4000 anarchistisch / linkslibertär eingestellte Menschen im Schweizer Jurastädtchen St. Imier. Unter den verschiedenen Strömungen war auch der Kommunalismus vertreten. Es wurde deutlich, dass dessen Grundidee – basisdemokratische Lokalversammlungen, die sich konföderieren – in vielen Ländern ihre Anhänger*innen hat, auch strömungsübergreifend. Der internationale Kongress bot ihnen eine Gelegenheit, sich zu vernetzen, um in Zukunft mehr kollektive Kraft zu entwickeln. Sie sehen Soziale Ökologie als „Vorschlag, wie wir den Kapitalismus hinter uns lassen und unser Leben gemeinsam in die Hand nehmen können”.

An einem Freitagmorgen im Juli 2023 füllte sich die „Salle des Spectacles” in St. Imier mit mehr und mehr Interessierten, die etwas über Soziale Ökologie und Kommunalismus erfahren wollten. Als Floréal Romero vom Reseau Écologie Sociale et Communalisme (RESC) schliesslich seinen Workshop begann, hatten sich rund 150 Kongressteilnehmer*innen in einem grossen Kreis um ihn herum geschart.

Der Aktivist und Buchautor beschrieb die Soziale Ökologie als eine Kritik an herkömmlichen Umweltschutzbewegungen, die den Kapitalismus und den Wachstumszwang ausser Acht lassen, und stellte klar: „Es ist das Ende der Menschen auf diesem Planeten, wenn es nicht gelingt, den Kapitalismus zu beenden.”

Die ökologische Krise und die soziale Krise sind zwei Seiten derselben Medaille – eine Krise, die von unseren Herrschaftsverhältnissen herrührt. Mit seiner Theorie des Kommunalismus bietet Murray Bookchin eine pointierte Analyse, um diesem Problem zu begegnen.

Laut Floréal Romero baut Murray Bookchin seine Theorie auf drei Analysen auf:

  • Marx: Analyse des Kapitalismus
  • Anarchismus: Konföderalismus und Ablehnung von Herrschaft
  • Ökologie: Der Kapitalismus zerstört die ökologische Diversität und er zerstört die Verbindungen, die die Gesellschaft zusammenhalten – „C’est la même chose!” („Das ist dieselbe Sache!”)

Allerdings gestalte sich der Dialog schwierig, bemerkte Floréal Romero, weil der Kapitalismus nicht nur etwas Externes sei, sondern eine Struktur, die wir alle emotional und intellektuell internalisiert hätten. Niemand kenne die richtige Lösung, auch Bookchin nicht – dafür brauche es unsere kollektive Intelligenz. „Der Kommunalismus ist keine Ideologie, sondern eine sehr offene Sache, ein Horizont”, betonte Romero. Die freie Kommune sei ein strategischer Vorschlag, um aus dem Kapitalismus auszubrechen. Bookchin zeige gewisse Richtungen auf, aber es liege an uns, eine kollektive Intelligenz zu entwickeln, um auf dem Weg voranzuschreiten.

Aber wie können wir agieren? Wie gelingt es uns, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen? Das Publikum wies auf indigene, dekoloniale oder ökofeministische Perspektiven hin. Für Rojava zum Beispiel sei die Frauenrevolution ein zentraler Grundpfeiler und nicht nur ein zufälliges Element. Wie eine Person sagte, sind Patriarchat, Binarität, die Ausbeutung von Arbeit und die Ausbeutung der Natur derselben Logik unterstellt, von der der Kapitalismus profitiert. Auf der anderen Seite ergänzen sich die Sorge um Menschen und die Sorge um Ökosysteme.

Keine Avantgarde, sondern ein offener Horizont

Murray Bookchin habe die Geschichte der Herrschaft und die Geschichte der Emanzipation neu aufgerollt, fuhr Floréal Romero fort. Er habe die modernen Revolutionen untersucht, etwa die „Levellers” in England, die Pariser Kommune von 1871 oder die Spanische Revolution von 1936. Seine Feststellung: Immer, wenn Menschen dominiert wurden, gab es automatisch auch eine Gegenbewegung.

Auch die Grünen in Deutschland waren zu Beginn eine emanzipatorische Bewegung – bis die „Realos” über die „Fundis” gewannen und die Grünen zu einer staatstragenden Partei machten. Bookchin plädierte stattdessen für selbstorganisierte Bewegungen in der Gesellschaft, die sich vom Staat emanzipieren: Politik soll nicht in den Händen der Politiker*innen liegen, sondern die Entscheidungsmacht soll von allen Menschen getragen werden. Beispielsweise können Bürger*innenversammlungen („assemblées citoyennes”) beraten, was die Leute wirklich brauchen und wie es organisiert wird. Daraus könnte sich parallel zum Staat eine Bewegung entwickeln, die auf wirklichen Bedürfnissen basiert.

Diese Bewegung dürfe aber keine Avantgarde sein, die allen sage, wo es lang gehe, betonte Romero. Sondern es gehe um populäre Bildung („éducation populaire”), die uns befähige zu agieren. „Es sind nur Vorschläge”, meinte Romero, „ein Horizont, der uns eine Konvergenz ermöglicht.” Wir sollten uns bewusst werden, was für eine Kraft wir haben, wenn wir unsere Kämpfe verbinden: Gewerkschaften, Ökolog*innen, Feminist*innen, Kämpfe gegen Kolonialismus, Quartierbewegungen.

Netzwerke bilden und ein Kräfteverhältnis aufbauen

Ohne gemeinsames Ziel gebe es aber keine Konvergenz, deshalb brauche es einen Dialog über die Frage: „Wie schaffen wir es, den Kapitalismus zu verlassen?” Individuelle Alternativen, wie zum Beispiel Kooperativen, hätten nicht die Macht, den Markt wesentlich zu stören. Zudem seien vereinzelte Initiativen wie die ZADs den Angriffen des Staats ausgesetzt. Deshalb schlägt Floréal Romero vor, Netzwerke zu bilden. Das RESC in Frankreich sei ein Anfang. Es brauche aber unter uns noch mehr Reflexion darüber, welche Kapazität da sei, um etwas zu erschaffen. Es brauche eine Bewegung, die eine Parallele zu Markt und Staat bilde und die alles verbinde, auch Kultur und Ethik. Auch international müssten die Verbindungen gepflegt werden, beispielsweise mit der zapatistischen Bewegung.

In der Diskussion wurden weitere kommunalistische und verwandte Projekte angesprochen, etwa Nantes en Commun, Munizipalismus in Spanien, Bürger*innenlisten bei Lokalwahlen, Ernährungsinitiativen in Montpellier, Quartierversammlungen in Rennes (zum Beispiel um eine Kindertagesstätte zu organisieren) oder die Zusammenarbeit mit der kurdischen Frauenbewegung in Marseille. Stichwort Kurd*innen: Eine Person rief dazu auf, an der Demo „100 Jahre Vertrag von Lausanne” teilzunehmen – von St. Imier wurde ein Bus zur Demo in Lausanne organisiert.

Anwesend waren auch das französische Mouvement Municipal, das mit einem Flyer dazu aufrief, demokratische Versammlungen in Quartieren durchzuführen, sowie Ecologie Sociale.ch aus Genf.

Eine weitere Person am Workshop sagte, auch prekarisierte Quartiere sollten einbezogen werden. Wenn alltägliche Fragen um Essen, Wohnen und Arbeiten diskutiert würden, schaffe das mehr Selbstsicherheit, um das Leben gemeinschaftlich in die Hand zu nehmen. „Eine Bewegung braucht die Unterstützung der Bevölkerung, um ein Kräftverhältnis aufzubauen“, fügte eine andere Person hinzu. Floréal Romero knüpfte an diese Aussage in seinem Schlusswort an, das er aber nicht als Schluss, sondern als Anfang sah: „Eine Revolution macht sich nicht einfach so!” Organisierung sei fundamental, um ein Kräfteverhältnis aufzubauen. Vor allem brauche es ein Netzwerk und eine Verstetigung der Reflexion: „Wir alle zusammen müssen eine Bewegung kreieren!”

Ein Film über das Leben von Murray Bookchin

Der Workshop von RESC war einer von über 300 Workshops, die während den fünf Tagen in zwölf Lokalitäten in der ganzen Stadt durchgeführt worden. Zusätzlich gab es eine grosse Buchmesse sowie Konzerte, Theater und Filme. Eine Filmvorführung über das Leben von Murray Bookchin wurde zu einem weiteren Brennpunkt, an dem sich an Kommunalismus interessierte Personen trafen und in Dialog traten. „Beyond Domination and Hierarchy, Libertarian Practices for an Ecological Society“ von Alex Pasco, präsentiert vom Centro Studi Libertari / Archivio Giuseppe Pinelli, Milano, in Zusammenarbeit mit elèuthera editrice, ist ein biografischer Dokumentarfilm, der 2021 zum 100. Geburtstag von Murray Bookchin produziert wurde. In St. Imier wurde eine neue, auf Englisch vertonte Version des italienischen Originals gezeigt. Die Erzählstimmen übernehmen Debbie Bookchin und Paul McIsaac.

Ein weiterer Bericht (auf Französisch) kann hier nachgelesen werden: https://www.ecologiesociale.ch/lecologie-sociale-aux-ria-2023-de-st-imier/