„Nichts über uns ohne uns“
„Wir wollen heute von der Politik erfahren, welche der von uns vor Jahren gestellten Forderungen schon erfüllt sind. Die Politiker werden heute gelöchert“, versprach im vollen Saal des Bennohauses am frühen Montagabend Birgit Deller von „WiM“, die gemeinsam mit dem Geschäftsführer der Lebenshilfe Münster, Ingo Zimmermann, den 90-minütigen Politiktalk anlässlich des „Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung“ eröffnete. Dieser Aktionstag findet – initiiert damals auf Initiative des Vereins „Selbstbestimmt Leben“ – seit 1992 jeweils am 5. Mai statt. Die Menschen mit Behinderung und ihre Institutionen werden an diesem Tag „Laut gegen Diskriminierung, soziale Spaltung und Ausgrenzung – für Solidarität und Teilhabe.“ Der Zusammenschluss „Inklusion in Münster“ hatte drei OB-Kandidat:innen und zwei weitere Parteivertreter:innen zum Austausch gebeten.

Auf der Bühne moderierten Leonora Hardewig und Swaantje Reichstein das Gespräch, das abwechselnd von Jana Meinhold und Tom Temming synchron in Gebärdensprache übersetzt wurde. „Greifen Sie mal unter Ihren Sitz. Dort steht eine »Stärkungstüte« für Sie“, baten die Moderatorinnen Tilman Fuchs von den Grünen, Maren Berkenheide von Volt, Jutta Malik von der CDU, Stephan Brinktrine von der SPD und Sebastian Nahrwold von den Linken zunächst die Frage „Was ist für Sie Inklusion in Münster?“ kurz und knapp zu beantworten. Ohne in die „Stärkungstüte“ schauen zu können, die offensichtlich auch viel Aufklärungsmaterial der Veranstalter, darunter die Lebenshilfe Münster, das Stift Tilbeck, die Seht Münster, die Alexianer, Funky und „Wir Menschen mit Lern-Schwierigkeiten in Münster“ (WiM).

Wille zum gemeinsamen Leben
In der ersten Runde machten alle fünf Politiker:innen deutlich, dass „alle Menschen die gleichen Rechte haben“ (Maren Berkenheide), sie „selbstbestimmt entscheiden und an politischen Prozessen beteiligt werden müssen“ (Tilman Fuchs), alle Menschen „Wertschätzung erfahren“ müssten (Jutta Malik), „Inklusion lebendig sein muss und auch Spaß machen dürfe (Stephan Brinktrine) und der „Wille zum gemeinsamen Leben“ (Sebastian Nahrwold) vorhanden sein müsse.
Direkt an diese mit der persönlichen und politischen Vorstellung verbundene schnelle erste Runde, hielt Katharina Könnig von der Lebenshilfe das Mikrophon für Fragen ins Publikum. Schon der erste Fragesteller machte deutlich, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Probleme haben, wie alle anderen Einwohner:innen auch. So war am Abend der Verkehr ein großes Thema. Viele fänden, dass die Buslinien in Münster nicht gut sind und die Busse zu voll seien, wurde kritisiert. Auch das die Fahrradwege und Bürgersteige zu schmal und zu oft zugeparkt seien wurde beklagt. Michael Angly vom Lebenshilferat forderte, dass es in Münster weniger ausleihbare E-Scooter geben müsse, die häufig im Weg ständen. Dafür erntete Angly sehr große Zustimmung.
„Geht allen so“

Zunächst antwortete auf der Bühne Tilman Fuchs, der unterstrich: „Es geht in Münster allen so. Die Busse sind unpünktlich, fallen aus, stecken zu lange im Stau. Da müssen wir besser werden und mehr ausgeben. Aber wir müssen auch im Blick haben, dass alles bezahlt werden muss.“ Jutta Malik, die aus Gievenbeck mit dem Auto nach Klein-Muffi ins Bennohaus gekommen war, erklärte, dass sie lieber die Zeit für die Parkplatzsuche nutze, als eine Stunde mit dem Bus unterwegs zu sein. Sie plädierte dafür, dass auch das Auto seinen Platz in Münster haben müsse: „Raus aus der Innenstadt“ funktioniere nicht. Maren Berkenheide forderte mehr Barrierefreiheit im Öffentlichen Verkehr und stellte als Vorbild Kopenhagen in den Raum. Sebastian Nahrwold erinnerte daran, dass es viele Mednschen gäbe, die nicht mit dem Zweirad sondern mit dem Dreirad radeln müssten. Ihnen ginge es in Münster häufig genauso schlecht im Verkehr wie den Rolli-Fahrer:innen. Daran knüpfte Stephan Brinktrine an: „So viele, eigentlich alle, haben im Verkehr Schwierigkeiten. Wir müssen die Busse zukünftig etwas schneller fahren lassen.
Fazit dieser Runde: Alle auf der Bühne versprachen, „es soll besser werden“, und alle im Publikum fragten sich: „Wann endlich?“
Teilhabe ist ein großes Anliegen

Digitalisierung – positiv besetzt – war im Podium ein wichtiges Zukunftsthema. Sie ist auch für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung von großer Bedeutung. Zum Glück sah Stephan Brinktrine ein: „Wir müssen mehr miteinander sprechen.“ Schließlich forderten ein Teilnehmer:innen mit Sprechblasenschildern: „Der Alltag muss passen – nicht wir.“ oder „Barrierefrei: Bus, Amt, App.“
Ein großes Anliegen war für Elke Falk von der KIB (Kommission für Inklusion von Menschen mit Behinderung), dass Menschen sich für viele Aktionen nur noch online anmelden können: „Es haben aber nicht alle Menschen ein Smartphone oder einen Computer.“ Rein digitale Lösungen können also auch schnell eine Barriere sein, die Menschen von der Teilhabe ausschließt.
Der Blickwinkel macht´s
Stephan Brinktrine betonte, dass in Politik und Verwaltung – insbesondere bei der Planung – häufig ein falscher Point of View vorläge: „Die Stadtverwaltung plant aus meiner Erfahrung noch immer aus Sicht der Autofahrer.“ Doch um inklusiv zu sein, müsse jede Sicht auf die Dinge Berücksichtigung finden. Maren Berkenheide steuerte aus eigenem Erlebnis ein Geschichte bei: „Ein Sehbehinderter wurde behandelt, als wäre er blöd.“

Auf die Frage aus dem Publikum, ob die Wahlprogramm auch von Menschen mit Behinderung mitgeschrieben worden seien, antworteten die Politiker:innen leicht abweisend. Zwar mochte niemand sagen, dass das eigene Programm explizit unter diesem Aspekt verfasst worden sei, aber alle reklamierten für sich und ihre Organisation, dass es bei ihnen Menschen gäbe, die darauf achten würden.
Tilman Fuchs warf ein, dass „ein Programm sich an alle Menschen richtet. Menschen mit besonderen Bedarfen sollten aber immer stark berücksichtigt werden.“
Sebastian Nahrwold betonte, dass nicht allein die Behinderung von Menschen Maßstab für politische Entscheidungen sein dürfe: „Beim kostenfreien Eintritt zum Beispiel in den Zoo ist für mich weniger der Grad an Behinderung als die Einkommens- und Vermögenssituation der Menschen von Bedeutung.“
Die Stellungnahmen der Politiker:innen in diesem Komplex entsprach nur teilweise der Forderung des Publikums. Das war der Auffassung, dass „Menschen mit Behinderung mehr und besser an politischen Prozessen beteiligt werden müssen.“
Zum Abschluss brachte Hanno Liesner von Funky noch etwas Tempo in die Veranstaltung, als er mit einer Schnellfragerunde die Politiker:innen zu einem klaren „Ja-“ oder „Nein-Bekenntnis“ zwang.

Die Veranstaltergemeinschaft zog ein positives Gesamtfazit der Veranstaltung: „Die Politikerinnen und Politiker waren sehr interessiert und haben viele Anregungen für ihr Programm mitgenommen. Im Anschluss haben sie sich auch noch Zeit genommen, um in persönlichen Gesprächen in den Austausch zu gehen.“
„So können sie mit-bestimmen.“

Die Gruppe „WiM“ (Wir Menschen mit Lern-Schwierigkeiten in Münster) hat eine 40-seitige Broschüre erstellt, in der sie ihr Interesse an Politik bekunden und Tipps und Hinweise geben, wie Menschen mit – und natürlich auch ohne – Behinderung sich stärker und erfolgreicher an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen können. Die Broschüre kann heruntergeladen werden.