Soziale Ökologie (engl. social ecology) ist ein „Bündel von Ideen”, das Mitte des 20. Jahrhunderts von dem amerikanischen Denker Murray Bookchin entwickelt wurde. Sie versteht sich als „kohärente, radikale Kritik von aktuellen sozialen, politischen und anti-ökologischen Trends”. Gleichzeitig will sie ein rekonstruktives, ökologisches, kommunitäres und ethisches Verständnis der Gesellschaft fördern.
Die Grundthese lautet: Alle ökologischen Probleme sind soziale Probleme. Sie verlangen deshalb nach einer gesellschaftlichen Lösung, nicht nach einer rein technischen. Filter an Schornsteinen, Elektroautos oder CO²-Zertifikate können den Klimawandel nicht stoppen, eben sowenig ein „grüner Kapitalismus“. Eine kapitalistische Gesellschaft kann niemals ökologisch sein, denn der Zwang zum ewigen Wachstum widerspricht diesem Ziel grundsätzlich. Folglich muss unser Gesellschaftssystem, das von Kapitalismus und Nationalstaat geprägt ist, überwunden werden.
Soziale Ökologie ist somit auch Herrschaftskritik. Horkheimer und Adorno haben erkannt, dass die Herrschaft über die Natur und die Herrschaft über Menschen zusammenhängen. Bookchin präzisiert diese These, bzw. stellt sie auf den Kopf: Die Idee, dass die Natur beherrschaft werden könne / müsse, sei überhaupt erst aufgekommen, als Menschen begonnen hätten, über andere Menschen zu herrschen.
Soziale Ökologie kritisiert nicht nur den Kapitalismus, der die aktuelle Form der Herrschaft darstellt, sondern geht geschichtlich weiter zurück. Sie analysiert und kritisiert die ganze Entwicklungslinie, die das Aufkommen von Patriarchat, Kriegertum, Schamanen, Priestern und Königen umfasst und bis zu Nationalstaat, Kolonialisierung und Neoliberalismus reicht.
Natur und Gesellschaft reharmonisieren
Um den Komplex Natur-Mensch-Herrschaft aufzulösen, müssen wir zuerst unser Naturbild hinterfragen. Soziale Ökologie bietet eine alternative Sichtweise zur „harschen” Natur, gegen die sich der Mensch durchsetzen muss. Sie will den Dualismus Mensch-Natur auflösen. Der Mensch soll die Natur nicht als Ressource betrachten, die er ausbeuten kann, sondern soll in Harmonie mit ihr leben. Soziale Ökologie geht somit über den bloßen Umweltschutz hinaus. Es geht nicht darum, bloß zu verhindern, dass der Mensch als Subjekt der Natur als Objekt etwas „antut“. Sondern sie ist bestrebt, dass die Gesellschaft ein symbiotisches Verhältnis mit ihrer natürlichen Umwelt eingeht. Der Mensch soll sich die Natur nicht nur „aneignen” (wie bei Marx), sondern partizipativ an ihr teilhaben.
Die Sozialen Ökologie begehrt jedoch nicht eine „unberührte Natur”. Nicht jede menschliche Einwirkung ist schädlich, im Gegenteil: Der Mensch hat das Potenzial, die Natur zu bereichern und sie in ihrer Tendenz nach Diversität und Komplexität (z. B. Biodiversität) zu fördern. Der Mensch kann die Natur sogar auf kreative Weise „verbessern”.
Die utopische Vision der Sozialen Ökologie ist eine ökologische Gesellschaft. „Ökologisch” bedeutet hier: frei, kreativ, nach Diversität und Komplexität strebend, sich entwickelnd, qualitativ statt quantitativ. Diese Prinzipien, die bereits in der Natur angelegt sind, lassen sich auf die Gesellschaft übertragen: Eine ökologische Gesellschaft muss eine freie Gesellschaft sein, d. h. frei von Herrschaft und Hierarchie. Prinzipien, die sich in Ökosystemen manifestieren, wie zum Beispiel Einheit in der Vielfalt („unity in diversity”), Komplementarität und Gleichheit der Ungleichen („equality of unequals”), können einer Gesellschaftsordnung als Vorbild dienen.
Die Gesellschaft re-konstruieren
Daraus folgt, das eine wünschenswerte Gesellschaft eine egalitäre, feministische, nicht hierarchische, solidarische, von Herrschaft und Unterdrückung freie, partizipative, demokratische ist (→ Kommunalismus). Solche ökologischen Prinzipien, wie z. B. Komplementarität, also dass sich Mitglieder der Gesellschaft unabhängig von ihrer „wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit” ergänzen, hat übrigens die Anthropologie in verschiedenen nicht-europäischen Gesellschaften beobachtet. Auch die Archäologie und Geschichtswissenschaft liefern Beispiele für solche Prinzipien, die in der Menschheitsgeschichte immer wieder aufgetreten sind. Bookchin spricht hier von der „legacy of freedom”, dem Erbe der Freiheit, im Gegensatz zur „legacy of domination”, der Geschichte der Herrschaft.
Soziale Ökologie ist utopisch, transformativ und rekonstruktiv, d. h. sie glaubt daran, dass sich die Gesellschaft zum Besseren hin entwickeln kann. Der Mensch kann eine kreative Rolle in der natürlichen und sozialen Entwicklung spielen. Einer kapitalistischen, hierarchischen, naturzerstörenden Welt stellt Soziale Ökologie eine Utopie von selbstverwalteten, dezentralen, demokratischen, ökologischen Gesellschaften entgegen, die in Balance mit ihrer natürlichen Umwelt existieren.
Dialektischer Naturalismus
Eine Stärke der Sozialen Ökologie ist, dass sie kohärent und philosophisch begründet ist. Sie wendet sich gegen den Positivismus, der nur das Gegebene als wichtig erklärt, und betrachtet stattdessen die gewichtete Entwicklung der Natur. Auf Aristoteles und Hegel Bezug nehmend sieht sie in allen Dingen die Potenzialität, sich höherer Komplexität zu entwickeln. Materie ist nicht einfach tot, sondern zeigt eine Tendenz zur Selbstorganisation: So entwickelten sich organische Verbindungen zu Einzellern dann zu Pflanzen und Tieren und schließlich zum Menschen. Rationalität und Subjektivität ist nicht etwas, das dem Menschen vorbehalten ist, sondern als Potenzialität, als Keim, bereits in der Natur enthalten ist. Das menschliche Gehirn entstand in einem langen Prozess, bei dem sich Nervenzellen auf immer komplexere Weise miteinander verknüpfen. Das menschliche Denken und die Fähigkeit, eine Gesellschaft und Kultur zu errichten, sind zwar einzigartig in der natürlichen Welt, sind aber in ihr verankert und aus ihr erwachsen.
Bookchin nennt diese philosophische Haltung „dialektischer Naturalismus”. Soziale Ökologie überwindet den Dualismus Mensch-Natur und Subjekt-Objekt. Zwischen der nicht-menschlichen Natur als „erster Natur” und der Gesellschaft als „zweiter Natur” gibt es keinen Abgrund, sondern es handelt sich um eine Kontinuität. Der Mensch ist ein Naturwesen, die Menschheit erwächst aus der Natur. Zudem kann sie dialektisch zur „dritten” oder „freien Natur” gelangen: einer freien, rationalen und ökologischen Gesellschaft. Ethik wird somit in der Natur und Rationalität verankert. Auch das Wirtschaftssystem muss ein moralisches sein, und nicht eines, das – völlig amoralisch und irrational – auf Profit und Ausbeutung beruht wie der Kapitalismus.
Gegen regressives Naturbild
Soziale Ökologie will aber nicht „zurück zur Natur”. Sie fordert nicht, dass wir wieder zu „Jäger*innen und Sammler*innen” werden, sondern sie will das emanzipatorische Potenzial der Technologie nutzen. Sie wendet sich scharf gegen Primitivismus und romantische Naturvorstellungen. Deshalb kritisiert sie auch die Tiefenökologie (Deep Ecology), gewisse esoterische Strömungen und den Ökofaschismus („Blut und Boden”). Insbesondere wendet sie sich gegen den Malthusianismus, also die Behauptung, dass eine „Überbevölkerung” das Problem sei. Sie entlarvt dies als rassistisches, kolonialistisches Narrativ. In einer Post-Knappheit-Ära (“Post-scarcity”) ist Knappheit menschengemacht, nicht naturgegeben.
Das Problem ist auch nicht „der Mensch” an sich, diese Sicht verschleiert Machtverhältnisse, sondern das Gesellschaftssystem. Beispielsweise tragen nicht alle Menschen gleichermaßen zur Klimaerwärmung bei. Auch der Aussage „Der Mensch ist das Virus”, die seit der Covid-Pandemie oft zu hören ist, würde die Soziale Ökologie vehement widersprechen. Genau sowenig sind „alle Menschen” eine große Familie (“oneness”), wie das gewisse esoterische Strömungen propagieren. Auch das würde Machtverhältnisse verschleiern.
Einfluss und Bedeutung
1974 gründeten Murray Bookchin und Dan Chodorkoff in Vermont (USA) das Institute for Social Ecology (ISE), das sich durch rege Forschungs- und Lehraktivitäten auszeichnet. Soziale Ökologie hat die Umweltbewegung seit den 1960ern beeinflusst, wie auch die Grüne Partei in Deutschland. Seit einigen Jahren beziehen sich besonders in den USA viele soziale Bewegungen auf Soziale Ökologie, etwa Symbiosis. 2013 wurde das Transnational Institute of Social Ecology (TRISE) in Griechenland gegründet. Auch in Frankreich, Belgien und Skandinavien befinden sich aktive Zentren der Social-Ecology-Bewegung.
Soziale Ökologie ist auch einer der Grundpfeiler der kurdischen Freiheitsbewegung, deren Vordenker Abdullah Öcalan sich unter anderem auf Murray Bookchin beruft. Soziale Ökologie wird auch als eine nicht-marxistische Form des Ökosozialismus beschrieben, bzw. stellt eine wertvolle Ergänzung dar. (Bookchin verstand seine Theorien als Synthese von marxistischen und anarchistischen Traditionen.)
Soziale Ökologie bietet eine Perspektive, wie das Naturverhältnis neu gestaltet werden und ein Ausweg aus der ökologischen Krise gefunden werden kann. Sie schlägt eine radikal demokratische Gesellschaftsordnung mit einer kooperativen, dezentralisierten Produktionsweise vor, sodass die Natur nicht ausgebeutet und zerstört wird, sondern dass Gesellschaft und Natur ein beiderseits vorteilhaftes Gleichgewicht eingehen.
„Was Soziale Ökologie als sozial ausmacht, ist ihr Anerkennen der oft übersehenen Tatsache, dass fast alle unseren aktuellen ökologischen Probleme aus tiefliegenden sozialen Problemen entstehen. Umgekehrt können unsere aktuellen ökologischen Probleme nicht klar verstanden und schon gar nicht gelöst werden, ohne resolut die Probleme in der Gesellschaft anzugehen. Um diesen Punkt konkreter zu machen: ökonomische, ethnische, kulturelle und Gender-Konflikte, unter vielen anderen, liegen im Kern der schlimmsten ökologischen Verwerfungen, denen wir heute entgegensehen …”
Murray Bookchin
Literatur:
- Bookchin, Murray: The Ecology of Freedom, 1981
- Bookchin, Murray: Social Ecology and Communalism, 2007
- Internationalistische Kommune von Rojava: Make Rojava Green Again, 2018, Kapitel „Soziale Ökologie”, S. 31–55
- White, Damian: Bookchin, A Critical Appraisal
Web:
Ein Text von Marc Schaffner