»Mehrwertstadt« Erfurt

Labor für Transformation und städtische Veränderungsprozesse

Von Birgit Meusel, Tina Morgenroth und Sebastian Perdelwitz

Ein Text der Initiative und Fraktion Mehrwertstadt Erfurt, der zuerst von Común veröffentlicht wurde!

Von der Idee einer Wähler:inneninitiative zur Ratsfraktion mit fünf Abgeordneten

2018 standen in Erfurt Oberbürgermeisterwahlen an. Die damals herrschenden Strukturen in Verwaltung und Stadtpolitik erlebten wir unter dem amtierenden OB als verkrustet. Eine Gruppe kritischer und veränderungswilliger Menschen tat sich zusammen, weil die Angebote der anderen Parteien keine Option waren. Auch hier erlebten wir wenig Beweglichkeit. So wuchs die Idee, einen eigenen Kandidaten oder eine eigene Kandidatin ins Rennen zu schicken. Nach gezielten Gesprächen einiger Menschen aus unterschiedlichen Themenfeldern und Netzwerken stand fest: Wir gründen eine Wähler:inneninitiative. Die »Mehrwertstadt« aus Erfurt war ins Leben gerufen worden.

Unser Kandidat Sebastian Perdelwitz schnitt bei den OB-Wahlen mit 9,5 Prozent der Stimmen gut ab. Das nächste Aufmerksamkeitsfenster bot die Kommunalwahl zum Stadtparlament ein Jahr später. Auch wenn einige unseren Mut (Übermut?) belächelten oder uns sagten, wir könnten politisch in dieser Gruppengröße nichts erreichen, beschlossen wir, als Initiative »Mehrwertstadt« zur Kommunalwahl anzutreten. Erneut mit Erfolg: Wir zogen mit vier Abgeordneten in den Stadtrat Erfurt ein, wo wir von 2019 bis 2024 vertreten waren. Hier schwankten die Reaktionen mit Blick auf einen neuen kommunalpolitischen Akteur zwischen Belächeln, Angst, Missgunst, aber auch Euphorie und wachsender Unterstützung, die sich in dem Ausspruch „Endlich!“ zeigte. Wir starteten ohne Struktur, mit wenig kommunalpolitischer Erfahrung und einer gehörigen Portion Skepsis. Aber vor allem mit jeder Menge Lust auf Veränderungen, Ideen sowie Engagement, unsere Stadt mit- und umzugestalten.

Im Wahlkampf hatten wir nicht die gleichen Ressourcen wie Parteien. Aber dennoch wuppten wir eine Menge. Die Menschen aus unserer Initiative hängten circa 1.200 Plakate auf und verteilten rund 70.000 Flyer an die Briefkästen der Stadt. Unser Hauptfokus war die Präsenz auf Social Media. So drehten wir Videos vor den Großaufstellern der parteilichen Konkurrenz, diese gingen viral und bescherten uns große Aufmerksamkeit.

Transparent mit einem Zitaten aus der Verwaltung.

Anfangen lohnt sich! Zusammenbringen und Netzwerke beleben

Mit den vier Abgeordneten im Stadtrat Erfurt waren wir in der Lage, eine eigene Fraktion – die »Mehrwertstadt« – zu gründen. Was das für uns bedeutet: mitbestimmen und mit Verantwortung übernehmen! Wir können in den Ausschüssen der Stadt mitarbeiten, einerseits mit den gewählten Stadtratsmitgliedern, andererseits mit „sachkundigen Bürger:innen“. Letztere unterstützen uns inhaltlich bei einer Vielzahl an Themen, die kommunalpolitisch verhandelt werden. Außerdem haben wir die finanziellen Ressourcen, eine Geschäftsstelle mit Personal auszustatten. Dadurch wird zum einen die ehrenamtliche Arbeit unserer Stadträt:innen und zum anderen die hauptamtliche Arbeit der sachkundigen Bürger:innen unterstützt, organisiert und inhaltlich unterfüttert. Unsere Geschäftsstelle eröffneten wir als „Labor für Transformation und städtische Veränderungsprozesse“. Denn das ist der Grund, warum wir aktiv sind: die Stadt als Lebensraum sowie ihre Verwaltung und Kommunalpolitik als Experimentierraum zu nutzen.

Dazu gehört Netzwerke zu pflegen, neue Netzwerke zu erschließen und darüber hinaus Themen auszumachen, an denen es sich zu arbeiten lohnt und in die bestenfalls Ehrenamtliche eingebunden werden können. Dass Menschen ihren Aufmerksamkeitsfokus verlegen oder verlegen müssen, ist normal. Daher haben wir eine gewisse Fluktuation in den einzelnen Themengebieten, die ehrenamtlich bearbeitet werden.

Die Kandidatin Jana Rötsch der Mehrwertstadt Erfurt erreichte bei der Oberbürgermeister*innenwahl 2024 in Erfurt 12,5 Prozent.

Themenbezogen arbeiten, wo die Motivation hoch ist

Wer Lust hat, eigenverantwortlich an einem Thema zu arbeiten, erhält Unterstützung. Wir halten nichts künstlich am Laufen, die Motivation muss von den Personen kommen. Nicht jedes Thema ist für jede:n etwas und Engagement darf sich fokussieren auf eine oder mehrere Herzensangelegenheiten. Dabei unterstützen wir mit dem Wissen und der Zeit aus der Geschäftsstelle. Die Mitarbeiter:innen der Fraktion sind darüber hinaus angehalten, sich selbst Themen zu suchen, an denen sie arbeiten wollen. 2024 wurde ein:e Referent:in für aktive Stadtgestaltung eingestellt. Wir wollen den Kontakt zu den Menschen der Stadt pflegen. Wir wollen uns nicht nur als Fraktion im Stadtrat verwalten.

Vogelperspektive auf Verwaltungsapparat

Unser großer Abstand zum System Verwaltung ist ein Vorteil. Wir haben keine Personen in politischen Funktionsämtern. Wir stellen keine Dezernent:innen oder Amtsleiter:innen. Bei uns läuft nichts über Beziehungen, wir müssen keine übergeordneten Absprachen treffen, wie es Parteien mit der Landes- oder Bundesebene tun. Wir können das Thema  an sich in den Mittelpunkt stellen. Wichtig ist uns, in den Ämtern Unterstützer*innen zu wissen, mit denen man Themen vorbespricht und Informationen teilt.

Grenzen der Akteur:innen in ihren Rollen respektieren

Trauerkranz-Aktion beim Spatenstich für ein neues Logistikzentrum.

Wir mögen die Menschen in der Verwaltung und haben trotzdem häufig eine große Distanz zum Verwaltungsapparat. Das schließt sich nicht aus. Wir respektieren jede Person in der jeweiligen Rolle und erkennen die institutionellen Grenzen, welche die jeweilige Rolle mit sich bringt. Häufig sind Verwaltungspersonen mit der fehlenden Transformation innerhalb des Verwaltungsapparats selbst unzufrieden. Wir sehen und respektieren das. Nicht nur einmal kamen Mitarbeiter:innen in das „Labor für Transformation und städtische Veränderungsprozesse“, weil sie dachten (hofften), dies sei ein Ort für ihre Ideen und Visionen. Genau diese Menschen braucht der Apparat, um transformationsfähig zu bleiben.

Akzente setzen, die andere nicht mitdenken – out of the box is where the magic happens

Wir arbeiten wertebasiert und nutzen kreative Aktionen als politisches Kommunikationsmittel: Wir spannten Transparente über Straßen mit Zitaten aus der Verwaltung, störten einen die Bauphase eines neuen Logistikzentrums einläutenden Spatenstich und kritisierten so die fehlende Haltung des Oberbürgermeisters zur Ansiedlungspolitik.

Das Thema Wohnen wird aus unserer Perspektive zu wenig bearbeitet. Also machten wir 2023 eine Studie zum Wohnen in Erfurt. Dazu gab es eine Veranstaltung und wir entwarfen schließlich eine Plakette zum „Fairmieten“. Ein erster Vermieter wurde für diese Plakette nominiert. Unsere Untersuchungsergebnisse stellen wir online zur Verfügung.

Auch beim Thema Nachpflanzungen von Bäumen ist Erfurt im Rückstand. Also pflanzten wir kurzerhand in einer Guerilla-Aktion „Klima-Bäume“. Einen Monat später forderte uns die Verwaltung auf, die Bäume zu entfernen. Wir schlugen proaktiv Alternativstandorte vor. Nach dem Verstreichen einer Frist war vom Umsetzen keine Rede mehr, die Bäume wuchsen gut an. Bewässert wurden sie von Menschen aus unserer Initiative, mitunter auch von der Stadtwirtschaft. Das konnten wir beobachten und freuten uns über die Akzeptanz. In manchen Fällen scheint es uns sinnvoll, Tatsachen zu schaffen und dann zu schauen, was daraus wird. In diesem Fall haben wir auf die Trägheit des Systems und die Vitalität der Bäume gesetzt.

Kurzum: Wir legen den Finger in die Wunde bei Themen, bei denen andere still sind, und halten auch die Kritik an unseren Methoden aus. Aus der Zivilgesellschaft erhalten wir dafür viel Zuspruch. Neben der Kritik ist uns wichtig, positive Akzente zu setzen. Wir haben im Haushalt erstmals Mittel für die Ortsteile zur Verfügung gestellt, um Biodiversitätsmaßnahmen im Nahbereich durchführen zu können. Seit 2022 streiten wir für diese Mittel im Haushalt. 2024 wurde die Stadt Erfurt für die vielen kleinen Projekte von der »Stiftung Naturschutz« für genau dieses Engagement ausgezeichnet. Wir freuen uns sehr, für diese Maßnahmen mitverantwortlich zu sein und aktiv etwas dafür getan zu haben.

Fraktionssitzung der Mehrwert-Fraktion.

Wo klemmt es noch?

Wir schaffen es noch lange nicht, die Vielfalt der Stadtgesellschaft abzubilden. Menschen, die wie wir an politischen Entscheidungspositionen stehen, sind häufig Akademiker:innen, weiß, mehrheitlich männlich und mitunter auch beruflich politisch tätig. Dass dies kein realistisches Abbild der Erfurter Stadtgesellschaft ist, liegt auf der Hand. Intern beschäftigt uns immer wieder die Frage, wie sich Diversität in den eigenen Reihen und schließlich auch in kommunalen Gremien erhöhen lässt. 

Warben wir im Wahlkampf mit Botschaften und Erklärvideos in elf Sprachen, sieht es bei der Besetzung von Posten anders aus. Mitunter hängt es an der fehlenden deutschen Staatsangehörigkeit, aber auch daran, wer alles mitgedacht wird.

In der Geschäftsstelle gelang es uns bereits, Mitarbeiter:innen mit migrantischen Perspektiven einzustellen und von ihrem Erfahrungsschatz zu profitieren. Aber in der kommenden Legislatur entsenden wir erstmals (abgesehen vom Ausländer:innenbeirat) eine Person mit migrantischer Perspektive als sachkundige Bürgerin in einen Ausschuss. An dieser Stelle müssen wir Vielfalt anders denken und an der einen oder anderen Stelle würden Gesetzesänderungen helfen, damit nicht nur Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit kommunalpolitisch aktiv werden können.

Als zweite Stelle, an der es hakt, ist vielleicht der Transfer zu nennen. Nicht immer werden wir dem eigenen Anspruch, politische Entscheidungen gut zu übersetzen und zu kommunizieren, gerecht. Weder an die eigenen Reihen noch an die Stadtgesellschaft. Wir wollen weiter offen und niederschwellig bleiben, um die Stadtpolitik für Menschen mit Lust auf Veränderungen zu öffnen. Wir veranstalten regelmäßig offene Treffen in Lokalen in verschiedenen Ortsteilen. Wir besuchen die Ortsteilräte, um im Dialog mit den gewählten Vertreter:innen zu bleiben oder erstmal mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wir sind für viele immer noch die Exot:innen aus der Innenstadt, aber daran, dieses Image loszuwerden, arbeiten wir. Wir halten unsere Fraktionssitzungen online und offen ab. Wer also dazukommen, zuhören oder mitreden möchte, loggt sich einfach ein. Älteren Menschen aus unseren Reihen, die digital nicht gleich fit waren, haben wir diese Zugänge erklärt und sie dabei unterstützt, sie zu benutzen. So konnten wir, insbesondere während der Pandemie, die gleich am Beginn unserer ersten Wahlperiode eine große Herausforderung war, trotzdem handlungsfähig, weiter in Beziehung zueinander und im Austausch miteinander bleiben.

Wie weiter?

Für die frisch begonnene Wahlperiode bis 2029 haben wir uns vorgenommen, die Themen Stadtgrün, Entsiegelung, Digitalisierung der Verwaltung, Theatertransformation und insbesondere Segregation und Wohnen in den Blick zu nehmen. Hier versuchen wir, durch Kooperation unsere Akzente zu setzen – über den Haushalt, entsprechende Beschlussvorlagen im Stadtrat und unsere neue Personalstelle „Aktive Stadtgestaltung“.

Autor*innen: Birgit Meusel ist Geschäftsführerin der Fraktion »Mehrwertstadt«. Tina Morgenroth ist ehrenamtliche Stadträtin der Fraktion »Mehrwertstadt« und Vorständin der Wähler:inneninitiative »Mehrwertstadt«. Sebastian Perdelwitz ist ehrenamtlicher Stadtrat der Fraktion »Mehrwertstadt« und Vorstand der Wähler:inneninitiative »Mehrwertstadt«.

Webseite der Initiative: mehrwertstadt-erfurt.de
Facebookseite der Initiative: facebook.com/mehrwertstadt
Instagramaccount der Initiative: mehrwertstadt_erfurt
Wahlkampfseite 2024: mehrstadt.de
Seite der MWS-OB-Kandidatin Jana Rötsch: jana-roetsch.de
Webseite der Fraktion: fraktion-mehrwertstadt.de
Facebookseite der Fraktion: facebook.com/FraktionMehrwertstadt
Instagramaccount der Fraktion: fraktionmehrwertstadt


Alle Fotos: © Mehrwertstadt Erfurt