Analyse kommunalistischer Praxis

„Demokratisches Repertoire“ in Paris 1871 und Deutschland 1918

Von Netzwerk für Kommunalismus

Die falsche Dichotomie zwischen partizipativer und repräsentativer Politik soll aufgehoben werden, sagt Politwissenschaftler Gaard Kets. Er betrachtet den Kommunalismus nicht als Programm, sondern als Analyse kommunalistischer Praxis. Dieses „demokratische Repertoire“ beschreibt er am Beispiel der Pariser Kommune und der Rätebewegung in Deutschland.

Kommunalismus, für sich genommen, ist eine radikale Form der Demokratie – wenn man Kommunalismus als kohärente Ideologie, als Programm darstellen möchte. Der Politikwissenschaftler Gaard Kets von der Radboud-Universität Nijmegen und Mitinitiant des Projekts „Vive la Commune! Communalism as a Democratic Repertoire“ wirft einen anderen Blick auf die Thematik. Anstelle eines programmatischen Ansatzes, wie er z. B. bei Bookchin zu finden ist, hat er ein akademisches Verständnis: Ihm geht es um eine beschreibende Analyse von „Kommune”.

Mats Reißberg vom Veranstalter Münsterliste moderierte am 19. November den informativen Abend mit dem niederländischen Politikwissenschaftler und Kommunalismusforscher Dr. Gaard Kets aus Nijmegen im Bennohaus. (Fotos: Werner Szybalski)

Kets untersucht das „demokratische Repertoire”, ein Konzept von Charles Tilly, das in verschiedenen Kontexten angewendet werden kann. Im Gegensatz zu programmatischen Ansätzen sieht er im Kommunalismus „ein Set von Praktiken und Erfahrungen”, nicht nur eine praktische Umsetzung eines Programms. Der Vorteil sei, dass die Kommune nicht auf eine Perspektive reduziert werde, sei es die marxistische, sei es die anarchistische, sei es die republikanische.

Rätebewegung in Deutschland 1918

Kürzlich erzählte Gaard Kets von seiner Forschung an einem Vortrag im Rahmen einer Ausstellung zur Pariser Kommune in Münster (organisiert von der Münsterliste). Insbesondere sprach er von der Rätebewegung in Deutschland 1918. Diese habe sich nicht nur gegen die parlamentarische Republik und das Gewerkschaftswesen gerichtet, sondern auch gegen den Bolschewismus, sei also der linkskommunistischen Tradition verbunden. Die Räte waren auch eine Kritik an der SPD und an dem Politikverständnis, das Bookchin „statecraft” (Staatsräson) nennt.

Gaard Kets beschrieb eine Vielfalt an Praktiken: Die politische Form der Räte sollte die Wirtschaft demokratisieren, es gab Soldatenräte, in denen Anerkennung und Würde thematisiert wurde, und es entstanden Stadtteilräte, die zum Teil mit Delegierten mit imperativem Mandat funktionierten. Alles in allem drückte sich die Bewegung in verschiedenen Formen aus, die sich zwischen Rätedemokratie und Parlamentarismus bewegten.

Gaard Kets wies darauf hin, dass die Räte in Deutschland eigentlich sehr exkludierend waren: Es fehlten Frauen und Arbeitslose. Inspirierend sei aber, was „rundherum” passiert sei. Verschiedene Gruppen hätten sich eingebracht, etwa Schriftsteller*innen und Künstler,*innen – und ja, auch Frauenräte habe es gegeben. Verschiedenste Vereine hätte sich als Räte konstitutiert. „Es gab eine Menge Leute, die demokratisch einbezogen werden wollten”, so Kets. Die Bewegung habe einen inspirierenden, experimentellen, chaotischen Charakter gehabt, eine „geordnete Unordnung”, wie schon zuvor in der Pariser Kommune.

Räte und Parlament

Gaard Kets ist überzeugt, dass dieses vielfältige Rätesystem gut mit repräsentativen Formen zusammenpasst. Ein Narrativ des Entweder-oder treffe auf die Deutsche Revolution nicht zu: Die meisten Protagonist*innen, ob in der SPD, USPD oder KPD, seien sich einig gewesen, dass die Frage nicht ein Entweder-oder zwischen Parlament und Räten gewesen sei. Die Räte seien ausserdem in parlamentarischer Form organisiert gewesen, mit Instrumenten wie Motionen, Fraktionen und Ausschüsse. Das habe unter anderem daran gelegen, dass der parlamentarische Diskurs einfach schon länger vorhanden und weiter entwickelt gewesen sei als der Rätediskurs.

Gaard Kets bezeichnete die Situation als „distributed leadership” – ein Begriff aus der politischen Ökologie, oder wie es Kurt Eisner in der Münchner Räterepublik beschrieb: eine Demokratisierung des öffentlichen Geistes.

Dr. Gaard Kets.

Das kommunalistische Repertoire

Zusammenfassend zählte Gaard Kets einige Punkte aus dem „kommunalistischen Repertoire” vor:

  • Räte entstehen spontan, sind nicht vom Staat oder einer Partei zur Verfügung gestellt.
  • von unten nach oben
  • imperatives Mandat
  • Delegierte jederzeit abberufbar
  • föderalistisch
  • exekutive und legislative Funktion
  • Volksmiliz statt stehendes Heer (ein bekanntes Programm der Sozialist*innen im Allgemeinen, gehört aber auch zum kommunalistischen Repertoire)
  • viele weitere Elemente aus der Marx’schen Interpretation der Pariser Kommune

Neuere Formen des Kommunalismus

Die rein klassenkämpferische Interpretation des Kommunalismus sei nach nach derm Zweiten Weltkrieg aus dem Fokus gerückt, fuhr Gaard Kets fort. In der Praxis sei es zu neuartigen Interpretation gekommen:

  • Frankreich in den 1960er-Jahren: Die Stadt ist der Ort politischer Revolution, nicht der Arbeitsplatz.
  • Die Gilets Jaunes, die eine „Kommune der Kommunen” anstreben
  • Fearless Cities, die weltweite Munizipalismus-Bewegung
  • der Demokratische Föderalismus in Rojava

Diese neuen Erscheinungen seien weit gefasst und offen für verschiedene Interpretationen, meinte Gaard Kets anerkennend – etwas, das der Linken im Allgemeinen zu fehlen scheine!

Wie könnte Kommunalismus in der Praxis aussehen?

Zum Schluss teilte Gaard Kets einige Visionen, wie Kommunalismus in der Praxis aussehen könnte.

1. Die Grenze zwischen global und lokal auf innovative Weise bearbeiten: Es geht nicht bloss um einen Mittelweg zwischen Neoliberalismus und Ethnonationalismus, sondern um einen echten Internationalismus. Das Konzept der Kommune kann eine transnationale, plurale Alternative bieten. Internationale Solidarität und Konzentration auf das Lokale ergänzen sich.

In München gab es übrigens Ideen über eine Zusammenarbeit mit ungarischen Räten, über eine Räterepublik von der Wolga bis zur Donau.

2. Die falsche Dichotomie zwischen repräsentativer Wahlpolitik und partizipativer Politik kann aufgelöst werden. Gaard Kets sieht keinen Widerspruch zwischen direktdemokratischem Engagement (Versammlungsbewegungen wie Occupy, Nuit debout) und der Strategie, repräsentative Institutionen zu besetzen. Beispielsweise habe die Bewegung 15M in Barcelona eine starke Basis in den Stadtteillen mit lokaler Wahlvertretung kombiniert.

3. Die Linke kann nicht einfach Instrumente der Demokratie übernehmen, ohne sie umzugestalten. Arbeitsplatz, Schulen, Unis, Nachbarschaften und Gemeinden können Orte sein, an denen präfigurativ eine zukünftige Gesellschaft vor-gelebt werden kann. Die Pariser Kommune und die Deutsche Revolution können zeigen, wie ein solches vielschichtiges Vorgehen in der Praxis aussehen kann.

Unvollständige Literaturliste zur Pariser Kommune: